Orthorexie: Zwanghaftes Essverhalten durch Diäten und Kindergärten – Kein Kuchen zum Kindergeburtstag

Orthorexie: Nur die eine wahre Ernährung macht stark, schlank, fit, schlau und glücklich. Und die anderen müssen es auch wissen, die anderen müssen es auch machen. Sind nur psychische Probleme die Ursache für die Orthorexie (und Kindergärten)? Und wie kommt man Orthorektiker mit seiner Umwelt zurecht – soziale Isolation.

Orthorektiker trennen scharf zwischen guten und schlechten, zwischen erlaubten und verbotenen Lebensmitteln. Dr. Lisa Pecho ist fachärztliche Expertin für Essstörungen bei den Beratungsstellen ANAD e.V. und beim Therapienetz Essstörung in München am Beispiel der strikten Vermeidung von Fett oder Kohlenhydraten: “Die Betroffenen definieren gesundes Essen oft als Abwesenheit von Fett und Kohlenhydraten. Dabei braucht unser Körper auch diese Nährstoffe.”

Orthorexia nervosa – krankhaft Gesundes Essen

Orthorexia nervosa – “krankhaftes Gesundes Essen” zeichnet sich nicht dadurch aus, dass man gern viel Salat, Gemüse, Vollkornbrot, Vollkornnudeln und Obst isst. Orthorexia nervosa ist dadurch gekennzeichnet, dass man so sehr auf sein gesundes Essen fixiert ist, dass man “… niemals ein Stück Pizza oder ein paar Pommes anrühren würde …”. Diese rigide Esskontrolle kann zum zwanghaften Verhalten führen und wird dann ein “Selbstläufer”.

Eine Abtrennung zwischen gesundem und kranken Essverhalten versucht Professor für Psychologie Dr. Reinhard Pietrowsky von der Universität Düsseldorf: Sich mit gesundem Essen auseinanderzusetzen ist positiv. Wenn sich alles andere der Beschäftigung mit gesundem Essen, mit Lebensmitteln, mit Speiseplänen, mit strenger Kontrolle des Essens unterordnet, spricht man von Orthorexie.

Bei der Orthorexia nervosa wird gesundes Essen zur “überwertigen Idee” und eine ständige Beschäftigung damit zur dominierenden Lebensaufgabe. Es spielt für Orthorektiker auch keine Rolle, ob ihnen das Essen, die “richtigen” Lebensmittel schmecken, es geht nur um den absoluten Gesundheitswert des Essens.

Die eine wahre, richtige Ernährung: Positive Erfahrungen, die alle teilen müssen

Orthorektiker haben mit ihrer Esskontrolle positive Erfahrungen gemacht. Nicht nur, dass sie in einem Bereich ihres Lebens Kontrolle erlangt haben, sie sind mit ihrer strengen Ernährung vielleicht schlanker, fitter geworden oder fühlen sich “… innerlich reiner”. Diese positiven Erfahrungen führen dazu, dass Essfanatiker fest der Überzeugung sind, dass nur diese eine Art der Ernährung, nur diese speziellen Lebensmittel gesund, schlank, fit und / oder schlau machen.

Deshalb wollen sie die Menschen in ihrer Umgebung von der einzig wahren Ernährung überzeugen. Sie wollen nicht, sie müssen es. Denn es ist die Wahrheit und die sollen die Menschen, die sie lieben und mögen auch erfahren. Tun sie nicht das Gleiche, können sie nicht fit und schlank werden und sein, sie werden stattdessen krank und sterben früher.

Nur führt alleine diese eine Art der Ernährung, führen nur diese bestimmten Lebensmittel zu einem gesunden, langen, fitten und schlanken Leben? Hilft es nicht auch, sich beim vorherigen Übermaß zu beschränken? Hat man sich vorher vielleicht nur nicht fit gefühlt, war man vorher vielleicht nur nicht schlank, weil man ein umgekehrt gestörtes Essverhalten hatte, weil man vorher in bestimmten Bereichen, die man jetzt rigide vermeidet, übertrieben hat?

Psychische Störungen als wirkliche Ursache für Essstörungen

Essstörungen können auch zum kompensieren eigentlicher anderer Probleme dienen. Durch die Beschäftigung mit dem Essen, dem ständigen Nachdenken über die Essensplanung, erlaubte und nicht erlaubte Lebensmittel und darüber, wie man es schafft, auch ja nichts falsches zu essen, kann man die eigentlichen Probleme zurückdrängen und abwehren. Diese Probleme und unterdrückten Themen können “… zum Beispiel Ängste, Unsicherheiten, aber auch Wut sein.”

Menschen mit einer tendenziell zwanghaften Persönlichkeitsstruktur seien besonders anfällig für eine zwanghafte Kontrolle ihres Essverhaltens – einer Essstörung. Diese Menschen mit Orthorexie sind eher ängstlich und perfektionistisch veranlagt. Häufig führt eine eine Stresssituation, z. B. Probleme in der Familie oder der Arbeit, zu einer Verschlimmerung von Ängsten, Unsicherheiten und / oder Wut.

Wenn sie es dann schaffen, ihr Essverhalten streng zu kontrollieren, ist es für sie ein Zeichen ihrer persönlichen Stärke. Sie haben einen Bereich gefunden, in dem sie stark sind, den sie kontrollieren und nach ihren Vorstellungen beeinflussen können. Damit können sie die fehlende Kontrolle und Beeinflussung in ihrem Berufsleben, in ihrer Ehe, im Zusammenleben in der Familie und mit anderen Menschen in ihrer Umgebung innerlich ausgleichen. Dort fühlen sie sich hilflos und ausgeliefert. Beim Essen üben sie Kontrolle aus.

Kinder werden in die Essstörung getrieben

Dr. Lisa Pecho findet, dass schon Kinder im Kindergarten in Essstörungen getrieben werden. Sie berichtet, dass die Kinder dort schon lernen, zwischen gutem und schlechtem Essen zu unterscheiden. Was aus meiner Sicht noch nicht schlimm ist. Die offizielle Ernährungsberatung in Deutschland setzt auch bei Kindern an und will zum Beispiel dafür sorgen, dass Kinder auch mal Paprika, Tomaten und Gurken essen.

Frau Pecho nennt es allerdings zu Recht übertrieben, wenn Süßigkeiten konsequent aus dem Kindergarten verbannt werden: “Wenn nicht mal am Geburtstag Kuchen mitgebracht werden darf, handelt es sich um ideologische Auswüchse.” Sie findet es besser, wenn Kinder z. B. durch gemeinsames Kochen ein Gespür für eine ausgewogene Ernährung bekommen.

Probleme mit einer Essstörung in der Umwelt zu leben

Menschen mit Essstörungen, Menschen mit Orthorexie, haben Probleme, nicht mehr mit der Umwelt, dem persönlichen Umfeld zusammenzupassen. Sowohl der Einkauf, der Einkaufsbummel durch die Stadt, wenn Hunger oder Appetit aufkommen, werden zum Problem. Je nach Art der gestrichenen Lebensmittel, je nach Art des noch erlaubten Essens, können sie nicht einfach einkaufen, nicht einfach mal schnell den Hunger stillen. Sie müssen hoffen, dass es in der Stadt einen Supermarkt, einen Drogeriemarkt mit Sonnenblumenkernen, mit Haselnüssen, mit ungesüßten Vollkornlebensmitteln, mit kohlenhydratfreien, fettarmen, eiweißreichen Snacks gibt.

Ganz gleich auf welche Art der Ernährung sich der Essfanatiker spezialisiert hat, eine gute Planung, das eigene Essen mitnehmen und nicht einfach schnell etwas fertiges Fast Food zu essen, sind immer die Folge von Ausflügen, von Einkaufsbummeln oder Besuchen bei Freunden.

Menschen mit Orthorexie nehmen meistens keine Einladungen zum Essen mehr an. Sie “… begeben sich immer mehr in die soziale Isolation.”, so Professor Dr. Pietrowsky. Beim Essen mit Freunden setzt man sich immer wieder Diskussionen über sein gesundes Essen, über seine spezielle Diät aus, die Essfanatiker verunsichert und aus dem Konzept bringt. Es regt einen auf, diskutieren zu müssen, sich dumme Sprüche und Scherze anzuhören. Und ist man bei verständnisvollen Gastgebern, vertraut man mit Orthorexie trotzdem nicht darauf, dass nur die richtigen, erlaubten, einzig gesunden Zutaten zum Kochen genommen werden und doch nicht eine Spur Mehl, Milch, Ei … ins Essen gemischt wird. Weil es eben immer so gemacht wird und doch nicht schlimm ist.

Frust und Schuldgefühle durch falsches Essen

Isst man doch mal etwas nicht erlaubtes, entstehen starke Schuldgefühle und Frust, als Anzeichen einer echten Essstörung. Man kämpft, wenn man von Orthorexie betroffen ist, immer auch gegen seinen eigenen Körper, gegen sein eigenes Unterbewusstsein. Es ist nicht so, dass man einfach nur noch die “richtigen”, “einzig guten” Lebensmittel isst. Man kämpft immer gegen sich selbst und seinen Appetit und seinen Hunger.

Man will Kontrolle ausüben, man ist davon überzeugt, aber man schafft es nicht (immer). Man muss besser werden, sich besser kontrollieren, noch viel strenger zu sich sein. Ich muss noch mich noch mehr mit meinem Essen beschäftigen, noch mehr nachdenken, noch genauer planen, anderen Menschen mit ihrem ungesunden Essen noch besser aus dem Weg gehen. Ich muss mich noch mehr sozial isolieren, um glücklich und gesund sein zu können.

Und wenn ich es jetzt sowieso nicht geschafft habe, dann kann ich mich heute und die nächsten Tagen noch mal richtig mit Industriemüll vollstopfen, beim nächsten Versuch schaffe ich es für immer, nur noch das richtige zu essen. Dann ist es jetzt das letzte Mal, dass ich diesen Müll esse. Einmal noch, und dann nie wieder.

Literatur:

Links:

Anmerkung:

Interessant ist der Artikel über krankhafte Essstörungen in der Schrot und Korn auch deshalb, weil mir an dieser Zeitschrift eher auffällt, dass sie gerade zu einer strengeren Esskontrolle aufruft. Über die Vorteile oder Wege Vegetarier oder Veganer zu werden, findet man immer mal wieder etwas, inklusive vegetarischer und veganer Rezepte. Zum Beispiel recht aktuell: “Gute Vorsätze: Besser essen – Vegetarisch für Einsteiger”, wo geschrieben wird: “… vegetarisch oder sogar vegan leben … Attila Hildmann macht es vor, viele folgen seinem Beispiel und berichten, dass sie sich bereits nach 30 Tagen fitter und gesünder fühlen.”

Schrot und Korn zitiert in dem Artikel über die Essensfanatiker Professor Dr. Pietrowsky damit, dass “… Vegetarier und Veganer eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit für Orthorexie haben als die Gesamt-Bevölkerung.”

ANAD e.V. schreibt auf seiner Webseite einen interessanten Gedanken: “Nur die Betroffenen selbst können entscheiden, ob sie die Essstörung aufgeben möchten oder nicht.”

Diplom-Betriebswirt (FH) André Fiebig